Die meisten von uns sind davon überzeugt, es unversehrt aus der Kindheit geschafft zu haben. Viele glauben, dass die Erfahrungen, die sie gemacht haben – und auch die Erfahrungen, die sie nicht gemacht haben – heute keine große Rolle in ihrem Leben spielen. Die Realität zeigt ein anderes Bild. Wir schmücken unser Leben mit tollen Jobs, ausgefallenen Autos oder Klamotten, um zu verhindern, dass wir frühe schmerzhafte Erfahrungen unter die Lupe nehmen oder unsere Überzeugungen infrage stellen zu müssen. Das funktioniert eine Weile ganz gut – bis wir erkennen, dass all der Glanz ein billiger Filter und keine Quelle für wahre Erfüllung.
Auch wenn wir es nicht vorhersehen können, irgendwann im Leben kommen diese Seiten heraus, die nicht geheilt sind. Das Leben deckt sie auf. Ja, das ist eine Tatsache.
Wir Menschen sind soziale Wesen. Unser Überleben hängt von unseren Bezugspersonen ab und wir gehen gezwungenermaßen mit jedem Wahnsinn mit. Für eine gesunde Entwicklung brauchen wir Liebe und Verbindung. Wir sehnen uns danach, gesehen, gehört und akzeptiert zu werden. Das ist nichts Neues. Viele Menschen glauben auch, dass wenn sie sich an Dinge nicht erinnern, diese auch keinen Einfluss auf ihr Wohlbefinden haben. Wenn wir jedoch durch die Hände derer, deren Aufgabe es war, uns als Kinder zu lieben und zu nähren, tief verwundet wurden, spiegelt sich das immer auf die eine oder andere Weise in unserem heutigen Leben wider.
So ziemlich jeder einzelne Mensch ist in seiner Kindheit in einem gewissen Umfang verwundet worden – der eine mehr, der andere weniger. Leider sind diese Wunden nicht offensichtlich. Sicherlich würden mehr Menschen heilen, wenn sie es wären. Nein, diese Wunden bluten nicht und sind für uns selbst und die Menschen um uns herum völlig unsichtbar. Wir haben sie längst als das Einzige, was wir je gekannt haben, akzeptiert.
Wie sieht die Realität vieler Menschen aus?
Durch die Folgen eines Bindungstraumas haben wir ein grundlegend verzerrtes Konzept von Beziehung und Sicherheit. Auch wenn es so aussieht als wäre das nur am Rande wichtig, ist es doch im Kern der wesentliche Dreh und Angelpunkt unseres gesamten Lebens. Beziehung ist essenziell. Wir stehen immer in Beziehung, zu unserer Umwelt und zu uns selbst.
Es ist kein Geheimnis, dass vielen Menschen in herausfordernden Lebenssituationen die angemessenen Bewältigungsstrategien fehlen, sie sich in toxischen Beziehungen wiederfinden und sich am Ende des Tages fragen, was mit ihnen oder den anderen nicht stimmt. Technisch entstehen daraus häufig Depressionen, chronische Angstzustände oder unvorhersehbare Panikattacken. Leider übersehen sie oft einen möglichen Zusammenhang zu ihren frühsten Bindungserfahrungen.
Ich kann dich also beruhigen: Es ist nichts falsch mit dir.
Wir alle haben Anteile zu heilen. Das ist kein Urteil. Das ist die menschliche Prägung. Willkommen in der Realität.
In den meisten Fällen springen wir in besonders engen und romantischen Beziehungen auf unsere alten Muster an. Wie auf Knopfdruck werden wir zu einem Roboter, der ein automatisches Programm abspielt. Das einzige, was wir wahrnehmen ist, dass jemand diesen Schalter umlegt hat und wir demjenigen dann dafür die Verantwortung in die Schuhe schieben können. Streit und Schuldzuweisungen sind sozusagen vorprogrammiert, weil jemand etwas gesagt oder getan hat, das uns verletzt. Das mag aus einer oberflächlichen Perspektive heraus, wahr und richtig erscheinen – wenn unsere nicht geheilten Wunden jedoch unbewusst angekratzt werden, ist alles, was wir erleben, eine unkontrollierbare physiologische Reaktion auf den Schmerz einer nicht geheilten Wunde.
Wer trägt also die Verantwortung?
Ich möchte hier klarstellen, wie machtlos du gegenüber so einer Reaktion bist. Das ist Reptilien-Gehirn-Überlebenszeug aus der Tiefe deines Stammhirns, das sich vor etwa 500 Millionen Jahren entwickelt hat. Wenn du dir dessen also nicht bewusst bist, kannst du in dem Moment nicht eine einzige Sache tun, um zu vermeiden, so auf den Schmerz zu reagieren.
Wenn wir auf unsere Entstehung zurückblicken, glauben wir, seit dem Tag, als die erste abenteuerlustige Amöbe aus einem Sumpf herauskroch, beachtliche Fortschritte gemacht zu haben – da muss ich dich leider enttäuschen. Wir sind zwar davon überzeugt, rational handelnde und denkende Lebewesen zu sein, funktionieren im Kern aber immer noch nach den ältesten Prinzipien der Evolutionsgeschichte. Wenn du mehr darüber erfahren willst, lies meinen Artikel … Gründe warum Mindset nicht ausreicht.
Was schließen wir daraus?
Kinder, die von ihren Bezugspersonen gedemütigt oder misshandelt werden, bleiben buchstäblich emotional stecken, egal in welchem Alter die Eltern sie im Stich gelassen haben. Das bedeutet für dich: Du bist nicht dafür verantwortlich, wie deine Bezugspersonen dich behandelt haben, aber du trägst die Verantwortung dafür, wie du heute damit umgehst.
Die Welt quillt über von verwundeten Kindern und emotional sechsjährigen, die sich als erwachsene Menschen ausgeben. Wenn du gesund sein möchtest, musst du heilen. Deine Altlasten werden dir immer wieder aufs Neue um die Ohren fliegen, ob du willst oder nicht. Ich bin mir sicher, du spürst tief in deinem Inneren, dass das die Wahrheit ist.
Es ist auch meine gelebte Erfahrung. Es ist das, was ich getan habe, was ich weiterhin tue und womit ich anderen helfe. Da draußen gibt es unzählige Ressourcen, die du nutzen kannst und viele Menschen, die dich gerne unterstützen: Ärzte, Therapeuten, Berater. Wo auch immer du gerade stehst, geh los und finde diese Menschen – sie können dir helfen.
Wie wird dein persönlicher Weg aussehen? Die Antwort kannst nur du allein herausfinden. Ich weiß nur, dass es ein Weg ist, der es wert ist, beschritten zu werden. Ein Weg, dein Leben wirklich zu leben. Wichtig ist nur eines: mach den ersten Schritt.
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